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Sich zu erinnern bringt zuweilen hervor, warum man sich über lange Jahre Verhaltensweisen, -muster angewöhnt bzw. bewahrt hat. In diesem Fall ist mir bei einem Interview zum Buch „Die vierte Gewalt“ von Richard David Precht und Harald Welzer ein Licht aufgegangen.

Ich erinnerte mich daran, welche Medien ich seit meiner Jugend gelesen habe und mir ist dabei sehr bewusst geworden, dass ich eigentlich Tageszeitungen, Sachbücher nie wirklich mit Verstand gelesen habe. Zwar besitze ich eine erschreckende Anzahl an „alten“ (Wochen)Zeitungen, die allerdings nur gerupft wurden. Bücher oder Artikel, die mich grundsätzlich interessieren habe ich aufgehoben, der Rest ging zum Altpapier. Und wenn ich sie nach langer Zeit in meinen Händen hatte, wusste ich nichts mehr damit anzufangen.

Woher kommt nun dieses Verhalten? Ich erkläre es mir inzwischen so:

Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen wo nur die Meinungen, Weltanschauungen und Vorgaben der Haushaltsvorstände zählte. Das wurde auch aktiv durchgesetzt; auch wenn sich meine Eltern – so erinnere ich es zumindest – selten einig waren. Sie haben sich oft gegeneinander ausgespielt; wir Kinder waren dann die Bande über die gespielt wurde.
Wie oft ich bei meinem Vater vorstellig werden musste, weil er mir das Leben erklären, mich zurechtweisen wollte.Man stelle sich die Situation so vor: In der Mitte der kleinen Sitzecke beim Fernseher der Couchtisch, auf der einen Seite eine Art Liege in braun mit hochstellbarem Kopfteil, eine Art Chaiselongue ohne Armlehne. Hierauf thronte der Herr des Hauses, mal liegend mal sitzend. Gegenüber die Sitzgelegenheit der Hausherrin (2ten Grades) bzw. besetzt mit mir. Die jeweiligen Vorträge die ich zu hören bekam, dauerten nicht selten über eine Stunde. Weder Fragen noch Widerworte waren gestattet. Bei Nichtbeachtung wurde so lange geredet, bis der Widerstand zu Ermüdung wurde. Ich erinnere mich daran, dass alles was ich sagte grundsätzlich falsch war und korrigiert werden „musste“.
Hobbies wurde so ausgewählt, dass meine Eltern möglichst wenig Aufwand damit hatten. Alles andere wurde abgelehnt. Begründung: Ich bliebe eh nicht dabei. Als ich ein Instrument lernen wollte, wurde dies abgelehnt. Es sein zu laut. Erst als meine Mutter die Idee hatte Gitarre lernen zu wollen, bekam ich eine. Mit der Auflage, ihr irgendwann Unterricht zu geben, weil sie keine Zeit dazu hätte. Seitdem mag ich keine Gitarrenmusik.

Ich wurde in den Ferien vom Gymnasium genommen, weil mich meine Klassenlehrerin nicht möchte. Ich sei zu verträumt. Es fand keine Rücksprache dazu mit mir statt.

Mein Vater beschied mir ein Versager zu sein, weil ich immer den leichtesten Weg gehen würde. Er meinte damit, dass ich mich verweigere wenn etwas ernst ist. Mein Vater sagte mal; es ein nicht sein Problem, wenn ich seinen Vorträgen nicht folgen könne. Die Verantwortung läge bei mir; ich müsse mich halt anstrengen.
Als ich mir aus Neugierde mal einen Chemiebaukasten und ein Mikroskop vom eigenen Taschengeld kaufte, wurde darüber so oft schlecht geredet und gedroht; wehe ich würde damit etwas zerstören, dass ich die Lust daran verlor.

Meine Eltern hatten aus finanziellen Gründen Pflegekinder, die teilweise seelisch und körperlich misshandelt wurden. Dazu musste ich schweigen und durfte keine selbst keine Fragen stellen. Kam die Betreuerin des Jugendamtes zur routinemäßigen Kontrolle, wurde mir vordiktiert, was ich zu sagen hatte. Danach musste ich in mein Zimmer verschwinden. Freunde wurden nur ins Haus gelassen, wenn diese keine Fragen stellten.


Das Ersticken von Neugierde und Wissensdurst bereits im Keim, lange Vorträge bis zu meiner Erschöpfung und einer nachfolgender Resignation. Diese Mixtur hat – so erkläre ich mir das – dazu geführt, dass ich mich der Schule verweigert habe und die meiste Zeit im Café bei Roswitha verbrachte und aufhörte Sachtexte zu lesen. Ich habe früh aufgehört, woanders Fragen zu stellen, mir selbst Texte zu erarbeiten, selbst zu (kreativ) schreiben. Irgandwann habe ich mir nicht mehr keinerlei Textverständnis mehr zugetraut. Über die Jahrzehnte hat sich diese Abwehrhaltung immer mehr verfestigt. Spannend ist der Aspekt, dass ich dennoch immer wieder neue Sachbücher angeschafft habe. Es scheint also noch eine kleine Flamme der Neugier zu brennen.

Ich merke, dass ich vieles nicht gelernt habe, was mir vermutlich in der Schule vermittelt wurde: Textverständnis, Textanalyse, Schreiben von Erörterungen, Kommentaren, Essays. Was also tun? Und manchmal bin ich einfach müde; wieder irgendwo im Anfängermodus zu verharren. Da es auf dem Dorf und mit Ü 50 nicht so ohne weiteres möglich ist, wieder die Schulbank zu drücken schlage ich einen anderen Weg ein. Ich habe mir einige Schulbücher der Mittel- und Oberstufe besorgt und lese mich dort ein. Das Kernstück ist aber ein Lesetagebuch für jede Lektüre. Es spricht Schüler von der 5. – 10. Klasse an und ich fühle mich dort abgeholt, wo ich glaube zu stehen. Allein dieses Heft zu kaufen war eine Art Mutprobe, denn dazu gehörte das Eingeständnis: hier stehe ich und ab hier will ich weitergehen. Schade finde ich es bisher, dass ich keine Gesprächspartner habe, denen es ähnlich ergeht.

Das Lesetagebuch nutze ich inzwischen auch für Wochenzeitungen und Magazine. Es braucht recht lange, weil ich die Texte nicht flüssig lese…dennoch schient mir aktuell diese Form die befriedigendste zu sein.

Georg

Georg liefert mit seiner Lebensgeschichte die Begriffe, die das Wörterbuch ersatz gestalten bilden. Wir haben jeden Beitrag miteinander erarbeitet. Die Beiträge sind vorerst nicht abgeschlossen; denn wir arbeiten weiter daran. Die einzelnen Entwicklungsschritte sind als Versionsnummer gekennzeichnet.