Ich möchte heute an das Jahr 1968 erinnern. Es spielt in meinem Leben eine besondere Rolle. Neben den Kriegsjahren 1939 bis 1945, die meine Schulzeit geprägt haben, und dem Mauerfall 1989 mit den folgenden Veränderungen haben die Ereignisse des Jahres 1968 besondere Spuren hinterlassen. In der Bundesrepublik wurden „die 68er“ zu einem festen Begriff. Es waren vor allem Studenten, die auf gesellschaftliche Veränderungen drängten. Die ersten 20 Nachkriegsjahre waren in Westdeutschland von dem Bemühen gekennzeichnet, an die Zeit vor dem Krieg anzuknüpfen. Eiserner Vorhang und Kalter Krieg machten es möglich, auf eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und einen überzeugenden Neuanfang zu verzichten. Die Bundesrepublik gehörte jetzt zum demokratischen Westen. Die bösen Feinde saßen im Osten. Der Wiederaufbau des zerstörten Landes und die erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung ließen kritische Nachfragen verstummen, welche Rolle Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft, Justiz und Militär vor 1945 gespielt hatten. Ihre Mitgliedschaft in Naziorganisationen und ihre Tätigkeit im Krieg waren kein Thema.
Anlass für viele Kundgebungen waren der Vietnamkrieg und verschiedene politische Ereignisse, an die ich mich kaum noch erinnere. Entscheidend war das Ergebnis. Vieles, was bis dahin als selbstverständlich galt, wurde infrage gestellt. Warum muss man Abendkleid oder Anzug tragen, wenn man ins Theater geht? Warum sind lange Haare nichts für Männer und Hosen nichts für Frauen? Warum soll ich einen Schlips umbinden, aber bequeme Turnschuhe ablegen, wenn ich zur Prüfung gehe? Der Umgang der Geschlechter miteinander änderte sich, begünstigt durch die inzwischen breite Akzeptanz der Pille. Manches, was heute selbstverständlich ist, galt in meiner Jugend als unanständig oder war tabu. 1968 steht für viele Veränderungen.
Bei uns im Osten kam alles mit einer gewissen Verspätung an. Mich beschäftigte in jenem Jahr der christlich-marxistische Dialog. In Karlsbad trafen sich Theologen und Marxisten zum Gespräch, um herauszufinden, ob ihre Gemeinsamkeiten nicht größer seien als ihre Differenzen. Dazu gehörte Mut, denn sie wurden in ihrem je eigenen Lager als Verräter und Opportunisten verleumdet. Aber es war die Zeit des Prager Frühlings. Ich hoffte damals, es ließe sich ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz verwirklichen. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei machte diesen Illusionen ein Ende. Die evangelischenKirchen in der DDR verurteilten in einem Brief an die tsschechischen Christen die militärischen Aktionen. Dieser Brief wurde in den Gottesdiensten verlesen. Die DDR-Behörden veruchten, meist vergeblich, das zu verhindern.
Dass 1968 auch der Club of Rome gegründet wurde, habe ich erst vier Jahre später zur Kenntnis genommen, als er die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte. Seitdem bemüht er sich darum, die Erde für spätere Generationen bewohnbar zu erhalten. Hier gibt es noch viel zu tun. Wir leben weithin auf Kosten unserer Nachkommen.